internationale Konferenz: Schöner Wirtschaften – Europa geschlechtergerecht gestalten
Programm (PDF): deutsch und englisch
Resumme (PDF): deutsch und englisch
Dokumentation der internationalen Konferenz vom 29. – 30. Oktober 2004 in München, München 2005, 170 Seiten
„Unverständlich: Wirtschaftliches Potenzial von Frauen in Europa weder erkannt noch entfaltet“
So könnte eine der Schlagzeilen klingen, wenn es nach der Vorstellung vieler TeilnehmerInnen der Konferenz „Schöner wirtschaften – Europa geschlechtergerecht gestalten!“ ginge, die von der FAM Frauenakademie München e.V. vom 29.-30.10.04 in München veranstaltet wurde. In der Tat war das Jahr 2004 voller Meldungen, die auf den Zustand und die Entwicklungen der Wirtschaft zielten. Dies reichte von Produktionsverlagerungen an wirtschaftlich billigere Standorte, von Insolvenzen großer Konzerne bis zu geplanten harten Einschnitten ins soziale Netz des Wohlfahrtsstaats. Die Gruppe von Sachverständigen um den ehemaligen niederländischen Ministerpräsidenten Wim Kok, die die Europäische Kommission zur Wirtschafts- und Sozialpolitik berät, konstatiert in ihrem im November 2004 vorgelegten Bericht: „Die Gesamtperformance der europäischen Wirtschaft in den vergangenen vier Jahren ist enttäuschend.“ Im Hinblick auf Produktivitätswachstum, Wachstum des Bruttoinlandsprodukts und der Beschäftigungsquote liegen die Mitgliedsländer der Europäischen Union abgeschlagen hinter den USA. Um das 2000 beim EU-Gipfel in Lissabon formulierte Ziel zu erreichen, nämlich bis 2010 die Europäische Union zur „dynamischsten und wettbewerbsfähigsten wissensbasierten Wirtschaft der Welt“ zu machen, wird ein ehrgeiziges Reformprogramm gefordert. Die Ausgestaltung eines solchen Reformprogramms beziehungsweise die Modifizierung aktueller Reformvorhaben auf EU- und nationaler Ebene steht jetzt (wieder) zur Debatte.
Dabei stellen sich zunächst die ganz grundsätzlichen Fragen, wer an dieser Debatte beteiligt ist und mitbestimmt und welches Grundverständnis über die Inhalte und Ziele des Wirtschaftens eingebracht wird. Es sind also Fragen der Demokratie und des Werteverständnisses der Europäischen Union, an die wirtschafts- und sozialpolitische Strategien anknüpfen. Diese Aspekte unter einer Geschlechterperspektive zu betrachten, ist gleichzeitig eine analytische Herausforderung und eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Notwendigkeit. Denn wirtschaftliche Prozesse können nicht umfassend verstanden werden, wenn nicht ihre unterschiedlichen Akteurinnen und Akteure und damit die Geschlechterverhältnisse berücksichtigt werden. Aufgrund unterschiedlicher Lebenssituationen, aber auch durch Rollenzuschreibungen, wirken sich wirtschaftspolitische Entscheidungen verschieden auf unterschiedliche Gruppen von Frauen und Männern aus. Ebenso spielt auch der Lebenszusammenhang von Frauen und Männern für ökonomisches Handeln eine Rolle. Innerhalb der Geschlechtergruppen unterscheiden sich die sozialen Risiken zwar erheblich, doch sind Erwerbslosigkeit und Armutsrisiken für Frauen insgesamt immer noch höher als für Männer, Beschäftigungsquote und Einkommen weiterhin niedriger. Zwischen den Ländern Europas zeigen sich diesbezüglich erhebliche Diskrepanzen, wenn wir etwa Schweden und Frankreich mit Deutschland und Polen vergleichen. Positiv gewendet gehören Frauen zu den wirtschaftspolitischen Akteurinnen, deren Potenzial (noch) nicht den Raum hat, um sich wirklich entfalten zu können.
Die Europäische Union erwies sich in den letzten 20 Jahren als Motor und wichtiger Referenzpunkt für Gleichstellungspolitik. Im Amsterdamer Vertrag von 1997 verpflichteten sich die Mitgliedstaaten zu Gender Mainstreaming, das heißt, alle Maßnahmen bereits in der Planungsphase auf ihre Wirkung auf Frauen und Männer hin zu überprüfen und auf das Ziel der Gleichstellung der Geschlechter hin auszurichten. Wirtschaft, Geschlecht und Gerechtigkeit zusammen zu denken und zu diskutieren, ist konzeptionell zwar in EU-Politik angelegt, allerdings ist die Strategie Gender Mainstreaming wenig konkret ausgestaltet und vor allem bislang kaum umgesetzt. Hier setzte die Konferenz der FAM Frauenakademie München e.V. „Schöner wirtschaften – Europa geschlechtergerecht gestalten!“ an. 120 Frauen und Männer aus Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft aus zwölf europäischen Ländern nahmen daran teil. Schwerpunkte bildeten
- die Bewertung der wirtschaftlichen und beschäftigungspolitischen Situation von Frauen und Männern in den einzelnen Ländern und welche Effekte EU-Politik darauf entfaltet(e)
- welche Erkenntnisse feministische Ökonomie beitragen kann
- wie die Zwischenbilanz der europaweiten Einführung von Gender Mainstreaming ausfällt
- was von Best Practice Beispielen für Gender Mainstreaming und Gleichstellungspolitik in Wirtschaft und Wirtschaftspolitik im internationalen Vergleich gelernt werden kann
- welcher Handlungsbedarf und wie die Handlungsspielräume unterschiedlicher politischer AkteurInnen gesehen werden.
Der Termin der Konferenz hätte kaum sinnträchtiger sein können. Zeitgleich wurde in Rom die erste gemeinsame Europäische Verfassung unterzeichnet. Verfassungen entstehen aus politischen Auseinandersetzungsprozessen über das, was auf Dauer gestellt und nicht nach jeder Veränderung der Mehrheitskonstellationen neu ausgehandelt werden soll (Vgl. Berghahn, Sabine/Wilde, Gabriele, 2004: „Einleitung: Verfassungen und Geschlechterpolitik“. In: femina politica: Verfassungspolitik – verfasste Politik. Heft 1/2004, 9-24.). Viele Frauen setzten erhebliche Hoffnungen in diesen Verfassungsprozess, drückt sich doch in Verfassungen der Wunsch nach Gerechtigkeit und Gleichberechtigung aus. Das Ergebnis der Europäischen Verfassung wird unterschiedlich bewertet. Die Frage der Gleichstellung der Geschlechter und das Diskriminierungsverbot sind fester Bestandteil der Verfassung. Dies ist positiv zu bewerten. Kritisch ist, dass die entsprechenden Artikel über eine rechtliche Integration von Frauen nicht hinausgehen. Eine Aufforderung zu angemessenen Maßnahmen zur Beseitigung struktureller Ursachen von ungleichen Geschlechterverhältnissen findet sich nicht in der EU-Verfassung. Auch die nachrangige Nennung der wichtigen europäischen Querschnittsaufgabe Gender Mainstreaming bleibt hinter den Erwartungen zurück. Gleichzeitig muss genau beobachtet werden, welche Wirkungen die starke Marktzentrierung der EU-Verfassung auf das Geschlechterverhältnis entfalten wird. Immerhin, die bisherigen Errungenschaften für die Gleichstellung von Frauen und Männern auf europäischer Ebene wurden in den Wertekanon aufgenommen, hinter den niemand mehr zurück kann.
Noch eine weitere historische Zäsur fiel auf unser Konferenzdatum. Ursprünglich sollte am 1. November 2004 die neue Europäische Kommission ihre Arbeit aufnehmen. Nun ist vom „Paukenschlag in Straßburg“ die Rede, als klar wurde, dass die vom designierten Kommissionspräsidenten Jose Manuel Barroso zunächst nominierte Kommission keine Mehrheit im Europäischen Parlament finden würde.
Das Einlenken Barrosos war ein Sieg der Demokratie und auch aus geschlechterdemokratischer Perspektive erfreulich, stand doch u.a. die Eignung des von Italien für das Amt des Kommissars für Inneres und Justiz vorgeschlagenen Rocco Buttiglione besonders zur Debatte, der in Interviews wiederholt Homosexualität als Sünde bezeichnete und ein reaktionäres Frauen- und Familienbild vertrat. Mit diesem Werteverständnis war er in diesem Amt für das Europäische Parlament nicht tragbar.
Mit dieser Dokumentation legen wir die Beiträge der Konferenz, soweit sie uns zur Verfügung standen, zum Nachlesen und Weiterdiskutieren vor. Sie versteht sich als Beitrag feministischer Intervention in die aktuelle wirtschaftspolitische Debatte. Wir wollen damit Informationen und Anregungen einem breiten Publikum zur Verfügung stellen.
An dieser Stelle wollen wir besonders den ReferentInnen und all denjenigen danken, die zum Gelingen der Konferenz beigetragen haben. Dies gilt insbesondere den KooperationspartnerInnen, die die Konferenz durch finanzielle, fachliche und organisatorische Unterstützung möglich gemacht haben: die Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, die Friedrich-Ebert-Stiftung, die Hanns-Seidel-Stiftung, die Heinrich-Böll-Stiftung, die Industrie- und Handelskammer für München und Oberbayern sowie die Petra-Kelly-Stiftung – Bayerisches Bildungswerk für Demokratie und Ökologie in der Heinrich-Böll-Stiftung e.V. Bedanken wollen wir uns auch für die großzügige finanzielle Förderung durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, die Bundeszentrale für politische Bildung und den Europäischen Sozialfonds.
Datum
29.10.04 – 30.10.04
Ort
München
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